Festrede zum 200. Stiftungsfest

Festrede zur Feier des 200-jährigen Bestehens der Loge “Zu den 3 Cedern” in Stuttgart am 5. Oktober 1974

Die festliche Rede aus Anlaß der 200-jährigen Wiederkehr des Gründungsjahres dieser ehrwürdigen und guten Loge “Zu den 3 Cedern” Stuttgart versucht, das Thema ” 200 Jahre Humanität” darzustellen.

Damit ist deutlich, daß ich nicht den Weg dieser Loge einfach nachskizzieren soll – wie käme ich dazu, die schöne Arbeit meines brüderlichen Freundes Dr. Karl Stempfle, der unsere Festschrift geschrieben hat, retuschieren zu wollen: Diese Arbeit verdient unseren Dank und unseren Respekt von ganzem Herzen – sie ehrt unsere Loge und sie ehrt den Autor.

I.

Es bedarf nun der Begründung, warum von “200 Jahren Humanität” und nicht von “200 Jahren Freimaurerei” gesprochen werden soll.

Gewiß müssen wir uns immer wieder darauf besinnen, wer wir sind und woher wir kommen.

Aber noch entschiedener müssen wir wissen, was uns bewegt, was wir übernommen haben und was wir weiterzugeben haben an die, die einst unseren Platz in der Kette und in den Kolonnen einnehmen.

Wir sind Freimaurer. Unser Name weist auf eine Tradition, die nicht erst mit jenem spektakulären Datum des Johannistages von 1717 in London beginnt, sondern die weit zurückreicht in die Zeit der Bauhütten, der Dome und Kathedralen. Ja, wer die Geschichte der sakralen Baukunst nicht nur nach den Bauwerken, sondern auch nach den Strukturen der Gemeinschaften kennt, die sie geschaffen haben, der weiß, daß die Überlieferung der verbundenen Werkleute bis in die Antike zurückreicht: Auch die Tempel des Altertums sind nicht Ergebnisse von Sklavenarbeit und Frondienst, sondern immer von freien, oft genug asketischen, ordensmäßigen oder in Gelübden dienenden Gemeinschaften.

Vergleicht man, soweit uns die Zeugnisse darüber erhalten geblieben sind, diese Gemeinschaften und ihre Strukturen miteinander, so ergeben sich über alle Völker und Zeiten hinweg Übereinstimmungen, die uns nachdenklich machen, weil sie noch immer auch für unsere Tage und für unsere Arbeit gelten.

Da ist zu allererst die Erfahrung, daß ein Bau nur gelingt, wenn alle selbstlos und zuverlässig zusammenarbeiten: Bauen ist mehr als alle andere Arbeit Gemeinschaftswerk.

Darum treffen wir überall die Einschwörung zur unverbrüchlichen Treue, zur Ein- und Unterordnung, zur vorbehaltlosen Dienstbereitschaft und zu einem Verhalten, das wir die brüderliche Achtung zueinander nennen können und überall auch die Überzeugung, daß es eine Auszeichnung bedeute, einem solchen Werkbund anzugehören.

Zum zweiten die Erfahrung, daß der Bau nur gelingt, wenn jeder sein Handwerk versteht und gute Arbeit leistet.

Darum muß der Unterricht gründlich und die Bewährung in der Werkarbeit sicher sein.

Also ist die Abgrenzung der Tätigkeiten streng: Kein Unbewährter, Ungeprüfter, Unbefugter darf Zugang finden. Darum sichern Paßwort, Zeichen und Griff nicht nur die Berufe gegeneinander ab, sondern auch den erreichten Rang des beruflichen Wissens und Könnens nach außen und nach unten – und die Geheimhaltung dieser Verabredungen ist unerläßlich.

Zum Dritten: Ein sakraler Bau ist, anders als ein Wohnhaus eine Brücke, eine Burg, nicht durch seinen Zweck allein bestimmt, sondern unternimmt immer eine Deutung des höchsten Weltsinnes.

Also ist alle Tätigkeit an Säule, Giebel, Kuppel oder Turm umgeben von mythischen, oft zauberischen, wenigstens aber von spekulativen, auch ethischen Hintergründen, gegen die niemand verstoßen darf. Darum muß jeder, und zwar nach Maßgabe seiner Mitarbeit am Bau, eingeweiht werden, und wir beobachten überall, wie die Unterweisungen als Einweihungen geschehen, in Graden, zu denen man erhoben wird – verbunden mit dem durch schwere Strafen erhärteten Gebot, gegenüber allen strenges Stillschweigen zu bewahren.

Es mögen diese Beispiele genügen, um auf Gemeinsamkeiten zu verweisen, denen auch wir uns verpflichtet wissen: Es leuchtet ein, daß sich aus ihnen viele ähnliche Spuren ergeben.

Es kann also durchaus sein, daß wir bei tibetanischen Mönchen, die ein Kloster bauen, bei Hindutempeln in Indien, bei Heiligtümern in China oder Japan, in Peru, Mexiko oder Ägypten, auf Kreta oder Delos Strukturen, Überlieferungen oder Zeichen entdecken, die den unseren ganz ähnlich scheinen. Aber sie beweisen nur, in welcher weitverzweigten, vielgestaltigen Überlieferung wir stehen. Sie deuten nicht an, wie’s halt überall doch Freimaurer gibt …

II.

Aus dieser Überlieferung nun, aus der unser Name kommt, wird vieles begreiflich, was unsere eigenen Wege deutlicher kennzeichnen kann: Da ist z.B. die uns eigentümliche mentale Offenheit nach allen Seiten. Wenn Tempel und Dome die Summen aller Wissenschaften und Künste sind, dann können sich die Werkgemeinschaften nicht nur auf die Angehörigen der Bauberufe beschränken. Und so gehören schon immer Adelige und Patrizier, Gelehrte und Kaufleute den Bauhütten an. Und weil die Bauhütten nach außen abgeschirmt sind, bleiben solche Mitgliedschaften fast immer diskret. Es hat also seine gute Tradition, daß sich in unseren Logen seit alters Angehörige aller ehrbaren und anspruchsvollen Berufe zusammenfinden.

Es hat auch seine gute Tradition, daß die Freimaurer offen sind für jedes Wissen, jede begründete Anschauung, und daß sie bereit sind, im vertiefenden Gespräch jede Lehrmeinung zu prüfen.

Dies bedeutet, daß Freimaurer keine eigenen ideologischen Doktrinen aufstellen – es sei denn, man sähe in dem Bekenntnis zum Gemeinsamen hinter jeder menschlichen Bemühung um Erkenntnis eine Doktrin.

Und es hat auch seine gute Tradition, daß wir uns als Verbundene und Erben der Werkleute des Tempels verstehen, und nicht als die Tempelherren und nicht als die Kleriker: Wir stehen in der Arbeit und im Dienst, und nicht in der Macht.

Es leuchtet aber auch die dunkle Seite unserer Tradition ein: Wenn am numinosen Ort gearbeitet, unterwiesen und eingeweiht wird, spielt Irrationales herein -Magie und Obskurantentum, Mystik und zauberischer Aberglaube: die zwingende Mächtigkeit des Okkulten wird ja zuerst an heiligen Orten erfahren.

Alle Jahrhunderte sind voll davon – auch das Zeitalter, in dem die Freimaurerei angetreten ist, strahlt nicht so hell, wie manche meinen: wir müssen nicht nur die Lichter sehen, die angezündet werden, sondern auch die Dunkelheiten, die sie erhellen sollen.

So ist auch die Freimaurerei der ersten Zeit fasziniert von den sogenannten “Hermetischen Wissenschaften”, vor allem von Alchimie und Kabbalistik, und die Versuche, auf diesen Wegen den Rätseln der Welt auf die Spur zu kommen – etwa durch geheime Obere, die im Besitz der Rezepte seien, Gold zu machen (Cagliostro zum Beispiel) haben zur Verdüsterung unseres Rufes mehr als alles andere beigetragen. Auch unsere gute und vollkommene Loge ist in ihren Anfängen davon nicht unberührt geblieben.

Aber – und dies dürfen wir mit Stolz sagen – es ist die große geistige und sittliche Leistung der Freimaurerei und auch dieser ehrwürdigen Loge, daß sie diese Faszination überwunden hat und, um die Erfahrung der Irrtümer bereichert und geläutert, zu der eigentlichen Aufgabe, dem viel bescheideneren und viel schwierigeren Anliegen der Freimaurerei, zurückgefunden hat.

Zurückgefunden zu ihren alten Pflichten. Das ist das Wort. Denn in der ersten “Konstitution” der Großloge von London, 1721 verfaßt von James Anderson, Doktor und Pfarrer an St. Pauls Cathedral i.L., im Auftrag des damaligen Großmeisters, des Herzogs von Montagu, und 1723 bei Hunter in London verlegt, lesen wir unter den “Charges”, den Pflichten:

“In alten Zeiten waren die Maurer in jedem Lande zwar verpflichtet, der Religion anzugehören, die in ihrem Lande oder Volke galt, heute jedoch hält man es für ratsam, sie nur zu der Religion zu verpflichten, in der alle Menschen übereinstimmen, und jedem seine besonderen Überzeugungen selbst zu belassen.”

Wer ist, wenn er einen solchen Satz liest, nicht sofort versucht, die Äußerung Friedrichs II. von Preußen “jeder könne in seinem Lande nach seiner Fasson selig werden” – hurtig als freimaurerisches Gedankengut zu deklarieren, weil Friedrich als Kronprinz 1738 in Braunschweig durch eine Abordnung in die Hamburger Loge “Absalom zu den 3 Nesseln” aufgenommen worden ist. Sie, Ehrwürdige Meister, kennen den Zusammenhang genauer und wägen diese Äußerung, so sehr wir ihr zustimmen, weniger dogmatisch ab.

Und doch:
Welch ein Beispiel für unsere Pflicht: Welch kühne Aufforderung zur Toleranz! Zur Einsicht also, daß hinter allem Aussagbaren ein Gemeinsames aufleuchtet, das nicht benannt werden kann; welcher Aufruf zur Erkenntnis, daß alle Aussage Stückwerk ist und darum Irrtum und Mißverständnis unterworfen – und zur Konsequenz, jede Äußerung, sei sie nur ernsthaft erwogen und ehrlich gemeint, habe das gleiche Recht auf Würdigung!

Der nächste Satz aus jenen “Constitutions” lautet:
“Sie sollen also gute und redliche Männer sein, von Ehren und Anstand, ohne Rücksicht auf ihr Bekenntnis oder darauf, welche Äußerungen sie sonst vertreten mögen. Wenn der Maurer diese Kunst recht versteht, so wird er weder ein engstirniger Gottesleugner noch ein bindungsloser Freigeist sein.”

Wem fällt bei diesen Sätzen nicht die freimütige Skepsis des Francois-Marie Arouet Voltaire ein, der zwar ein entschiedener Gegner der Kirche war, aber die Existenz Gottes einfach mit Gründen logischer Erkenntnis und fern aller schwärmerischen Exaltation bejaht hat, und der es vermocht hat, alle klerikale Anfeindungen mit Überlegenheit zu tragen.

Und wieder sind wir verführt, unbesehen diese Skepsis als Zeugnis freimaurerischer Geistesfreiheit zu beschlagnahmen.

Nun – Voltaire wurde am 17. Februar 1778, im Beisein von 250 Brüdern, am Arm des damaligen Gesandten des unabhängigen Amerika in Frankreich, Benjamin Franklin, in die Loge “Les neuf soeurs” eingeführt – und dies ist ein erhabenes Bild. Aber damals war er 84 Jahre alt -und ein halbes Jahr später, am 30. Mai 1778, starb er. Sein kritisches Lebenswerk ist also eher Anlaß zu seiner Aufnahme in die Bruderkette, nicht aber Zeugnis freimaurerischer Vorstellungen. Immer wieder unterliegen wir der Versuchung, Ideen, Leistungen, politische und künstlerische Manifestationen für uns zu beanspruchen, nur weil Brüder aus unserer Kette führend mitgewirkt und aus Gesinnungen, die wir teilen, gehandelt haben.

Ich bitte Sie also, nicht so zu tun, als sei die Amerikanische Verfassung ein freimaurerisches Werk oder die Französische Real-Enzyklopädie – oder auch das Rote Kreuz, obwohl Henry Dunant und seine tatkräftigsten Mitarbeiter Freimaurer waren, und wir auch nicht vergessen wollen, daß sich der Preußische Generalstab der Einführung der Genfer Konvention von 1864 starr widersetzte, und es die Stuhlmeister der Berliner Logen waren, nicht die christlichen Oberhofprediger am Königlichen Hofe, die König Wilhelm als den Schirmherren und Großmeister der Preußischen Logen bewogen haben, den Widerstand von Moltke, Roon und Bismarck zu überwinden. Nehmen wir solche Zeugnisse zum Anlaß, auch unsere Haltungen zu überprüfen: Wir stehen in unserer Zeit – und sie stellt uns die Aufgabe, unseren Standort zu ihren Problemen zu finden. Dazu hilft uns nicht ein Dogma, eine Ideologie oder eine Doktrin.

Wohl aber stehen wir vor einer Forderung, unser Gewissen zu prüfen, die Meinung des anderen zu achten und uns tätig zu entscheiden.

Die Versuchung ist immer groß, uns solchermaßen mit den leuchtenden Beispielen der Menschlichkeit zu schmücken.

Aber wenn wir dies täten, dann müßten wir ja auch die dunklen Spuren bejahen – die Blutschuld der Französischen Revolution etwa, denn Danton, Morat und Robespierre waren, wie viele andere, überzeugte Freimaurer, und unter den Adligen, deren Köpfe unter der Hinrichtungsmaschine des Arztes und Freimaurers Guillotin rollten, trug mancher den Schurz.

Es wäre sicherlich gut, darüber nachzudenken; vielleicht erführen wir dann mehr über Idealismus und Irrtum, Schuld und Läuterung.

Hier gilt es nun festzuhalten:

Zu keiner Zeit waren Logen Zirkel, in denen Ideologien, philosophische oder theognostische Systeme, politische oder soziale Strukturen entwickelt werden sollten.

Wir argumentieren in die falsche Richtung, wenn wir das, was jene alten Pflichten beschrieben, glauben immer mit Fakten und Leistungen belegen zu müssen.

Der Auftrag lautet ganz anders.

In jenen “Charges” steht:

“So wird die Freimaurerei zu einer Stätte der Einigung und zu einem Mittel, wahre Freundschaft unter Menschen zu stiften, die einander sonst ständig fremd geblieben wären.”

Wahre Freundschaft zu stiften: Dafür gibt es wunderbare Beispiele. Für uns besonders nachdenkenswert die Freundschaft zwischen Aristide Briand, dem Franzosen, und Gustav Stresemann, dem Deutschen. Ich glaube, wir haben recht, wenn wir darauf verweisen, daß beide Freimaurer waren – dies hat den Weg zueinander gebaut und ihrem großen Anliegen der Versöhnung beider Völker miteinander den tragenden Grundsatz gegeben; daß sie mit ihrem Bemühen letztlich gescheitert sind, ist nicht ihre Schuld, sondern unser Schicksal geworden.

Lassen Sie mich, um dies zu vertiefen, die Worte zitieren, die Gustav Stresemann anläßlich seiner Aufnahme in seine Berliner Loge, bei der Besinnung in der dunklen Kammer niederschrieb:

“Schon lange war es mein Wunsch, in eine enge Beziehung zu einem gleichgesinnten Kreis von Menschen zu gelangen, die in unserer an Materialismus, Hast und Unruhe sich zermürbenden Zeit das Reich eines allgemeinen Menschentums unserer Besinnlichkeit und Geistigkeit zu erhalten suchen.”

“Eines allgemeinen Menschentums”:
Dieses Wort Stresemanns ist seltsam dunkel und schwer zu konturieren. Und wenn wir nun am Schlusse dieses Versuches, ein zweihundertjähriges Bemühen nachzuzeichnen, die kritische Frage stellen müssen: Was bewegt uns, was haben wir empfangen und weiterzugeben an die kommende Generation?

Dann ist die Antwort scheinbar dürftig und eben nicht durch eindeutige Großtaten auszuweisen.

Aber dies läßt sich sagen: Es leuchten immer wieder, in all den Vorhaben, an denen Freimaurer beteiligt sind, Gesinnungen auf, die uns ein Beispiel geben.

Die Geschichte des 200-jährigen Weges ist die Geschichte des Versuches, Ernst zu machen mit der Bereitschaft, dem Anderen in Offenheit und Achtung zu begegnen, mit ihm brüderliche Weggenossenschaft zu halten und mit ihm gemeinsam das Leben als eine geschenkte Spanne Zeit zu sehen, in der wir uns zu bewähren haben, um den Sinn zu verwirklichen, der in einem solchen Geschenk liegt.

Es mögen sich viele Dinge in unserem Bund wandeln – bleiben wird die Aufgabe: In der Zeit, in die wir hineingestellt sind, Beispiele der Menschlichkeit zu geben – jeder an seinem Platz.

Und ich darf schließen mit den Worten, mit denen unser Bruder Kemper 1933, als die Freimaurer zu Staatsfeinden erklärt wurden, und die Brüder beschlossen, die Lichter zu löschen (was ist das für ein Staat, der uns zu seinen Feinden erklärt – um unserer Friedensliebe willen. Der uns verdächtigt, wir könnten unser Vaterland weniger lieben, weil wir unseren Freund im anderen Land nicht verraten wollen!).

Bruder Kemper sagte damals – seine Rede befindet sich in unserem Archiv:
“Man kann uns verbieten und vertreiben. Aber niemand kann uns verbieten, Menschlichkeit zu üben!”

Meine Brüder in all Euren Graden und Würden:

In diesen Auftrag ist jeder von uns eingetreten – und diese Aufgabe bleibt uns bis zum letzten unserer Tage.


Der Vortrag ist auch als Original-Tondokument verfügbar:

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